Über

 

Als Super-Scoring werden Praktiken der individuellen Bewertung und Verhaltensbeeinflussung auf Basis digitaltechnisch erfasster und algorithmisch ausgewerteter Daten bezeichnet. Sie führen Punktesysteme und Skalen aus unterschiedlichen Lebensbereichen, wie Bonität, Gesundheitsverhalten oder Lernleistungen, zusammen und könnten sich zu einem neuen und übergreifenden Governance-Prinzip in der digitalen Gesellschaft entwickeln. Ein besonders prominentes Beispiel ist das Social Credit System in China. Auch in westlichen Gesellschaften gewinnen plattformgebundene Scoring-Praktiken und digitale Soziometrien an Bedeutung. Wie ist der aktuelle Stand ausgewählter Praktiken in China und in westlichen Gesellschaften? Wie sind die individuellen und sozialen Folgen zu bewerten? Wie wandelt sich das Bild vom Menschen und wie sollte bereits heute die politische und aufklärerische Bildung darauf reagieren?

Die interdisziplinäre Fachtagung „Super-Scoring? Datengetriebene Sozialtechnologien in China und westlichen Demokratien als neue Bildungsherausforderung“ am 11. Oktober 2019 in Köln stellt aktuelle Konzepte und konkrete Umsetzungen von datengetriebenen sozialen Steuerungsprozessen mithilfe von Digital- und Überwachungstechnologien vor, diskutiert ihre normativen Grundlagen und gesellschaftspolitischen Auswirkungen und benennt insbesondere bildungspolitische Konsequenzen und Handlungsempfehlungen. Im Zentrum steht das durch datafizierende Digitaltechnologien beobachtete Individuum, dessen Eigenschaften und Verhaltensweisen in numerischen Werten – Punktesysteme, Scores und insbesondere übergreifende Super-Scores – abgebildet werden, die dann in sozialen Steuerungsprozessen weiterverarbeitet, bewertet und ökonomisiert werden. Die Fachtagung und das Portal superscoring.de sollen den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs über die sozialphysikalische und digitaltechnologische Steuerung gesellschaftlicher Prozesse fördern.

 

Hintergrund

Digitale Transformationsprozesse, insbesondere die fortschreitende „Datafizierung“ (Filipovic 2015) und „Quantifizierung des Sozialen“ (Mau 2017) und die „tiefgreifende Mediatisierung“ (Hepp 2018), erzeugen neue soziale Veränderungsdynamiken. Als „Society’s Nervous System“ bezeichnet Alex Pentland (2012) ein globales Steuerungs- und Kontrollsystem, das bereits vorhandene Mobil- und Big Data-Technologien dazu nutzt, permanentes „reality mining“ zu betreiben. Das Programm einer „Social Physics“ richtet sich auf die Herausforderung „to engineer better social systems“ mithilfe von Big Data und einer „predictive, computational theory of human behavior“ (vgl. socialphysics.media.mit.edu).

Kontroll- und Steuerungseffekte einer besonderen Ausprägung dieses „Nervensystems“ können am Beispiel des chinesischen „Social Credit Systems“ beobachtet werden. Die chinesische Regierung veröffentlichte am 14. Juni 2014 den Plan zur landesweiten Einführung dieses Scoring Systems für den Zeitraum 2014 bis 2020 als eine wichtige Grundlage für die Umsetzung einer „wissenschaftlichen Entwicklungsperspektive“ und den Aufbau einer „harmonischen sozialistischen Gesellschaft“ in China (Übersetzung von Creemers 2016, Meissner 2017). Über die datengestützte Erfassung und Förderung der wirtschaftlich orientierten Kredit- und Vertrauenswürdigkeit im engeren Sinne hinaus verfolgt die landesweite Einführung des Punktesystems für Individuen und Unternehmen bis 2020 das Ziel, die „soziale Aufrichtigkeit“ zu fördern, um „soziale Harmonie, Stabilität und eine lange Zeit des Friedens und der Ordnung“ in China zu sichern. Die Einführung des Social Credit Systems betrifft auch Bildung und Kultur als Kanäle, um die „Aufrichtigkeit“ und „Selbstdisziplin“ aller Mitglieder einer Gesellschaft im Sinne einer „moral education“ zu fördern. Teil des Systems sind auch negative Sanktionen gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, wie etwa der punktebasierte Ausschluss von sozialen und wirtschaftlichen Leistungen (Creemers 2017: 97, 2018). Nach der offiziellen Ankündigung durch die chinesischen Behörden folgte eine Reihe von kritischen Berichterstattungen in westlichen Medien. Die politisch in China angeleitete Verbindung von Big Data und Künstlicher Intelligenz in Kooperation mit der global operierenden Internet-Wirtschaft erzeugt eine vielfältige Projektionsfläche für dystopische Zukunftsentwürfe im westlichen Diskurs. Das chinesische Modell wird zum westlichen Narrativ eines sozialkybernetischen Albtraums, da es sich projektiv auf alle Bereiche eines digital vermessenen Lebens in der Netzwerkgesellschaft beziehen könnte. Während das chinesische System seine Steuerungsabsichten offen erklärt und mit Propagandakampagnen zur Bewusstseinsbildung verbindet, nutzen westliche, liberale Demokratien stärker unsichtbare soziale Kontrolltechniken wie Nudging oder verborgene Scoring-Techniken (Cremers 2018). Die aktuelle repräsentative Studie von Kostka (2018) hingegen zeigt, dass die befragten chinesischen Internetnutzer das „Sozialkreditsystem weniger als Überwachungsinstrument, sondern vielmehr als Instrument zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Schließung institutioneller und regulatorischer Lücken ansehen” und dass die Zustimmung bei älteren und gebildeten Chinesen besonders groß sei (FU Berlin 2018).

Der zunehmende Einsatz dieser technologiegestützten Vermessungs- und Scoring-Verfahren auch in westlichen Gesellschaften etwa bei Versicherungen, Banken und Konsumentenportalen stellt den Verbraucherschutz und die Regulierung vor neuen Herausforderungen. Diese beziehen sich auf das individuelle Verhalten und das Ausmaß von Selbstbestimmung und Freiheit wie auch auf Solidaritätsprinzipien. In seinem Gutachten zu “Verbrauchergerechtes Scoring” empfiehlt der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen “die Entwicklung in China und in anderen Ländern, wo mit Super-Scores experimentiert wird, sorgfältig zu verfolgen und zu analysieren. Insbesondere ist ein öffentlicher Diskurs über die sich damit verändernden gesellschaftlichen Werte und Gestaltungsoptionen notwendig”  (SVRV 2018: 7).

Die Übertragbarkeit des Chinesischen Systems auf westliche Demokratien dürfte angesichts der unterschiedlichen Politik- und Rechtssysteme kaum direkt erfolgen, dennoch ist davon auszugehen, dass in einer globalisierten Ökonomie Personen und Unternehmen, die mit chinesischen Plattformen in Verbindung kommen auch mit dem Social Credit System zukünftig umgehen werden müssen. Diese globale Ausstrahlung in Verbindung mit technologischen Entwicklungsdynamiken und Konzentrationsbewegungen, insbesondere im Bereich der Künstlichen Intelligenz, veranlassen Al-Ani (2018: 45) zu der Aussage: “Auf jeden Fall wird dieses Modell auch westliche Gesellschaftsideen beeinflussen”.

Mit der gegenwärtig beobachtbaren Entgrenzung der informationstechnologisch unterstützten Vermessung des Sozialen zu einer „Gesellschaft der allgegenwärtigen Soziometrie“ (Mau 2017: 10) und der globalisierten Suche nach neuen Governance-Strukturen in der digitalen Welt stellen sich grundlegende Fragen für die politische Zukunftsgestaltung und für die politische und medienkritische Bildung: Super-Scoring prägt ein neues Gesellschafts- und Menschenbild.