In ihrem Artikel „Der dressierte Mensch“, erschienen in Le Monde diplomatique am 10. Januar 2019, analysieren die Journalisten René Raphaël und Ling Xi mit profunder Kenntnis das chinesische Sozialkreditsystem (bzw. Social Credit System, Social Scoring). Sie erklären, wie das Punktesystem zunächst zum Messen der Kreditwürdigkeit entwickelt wurde, wie Versprechen nach Sicherheit, Verlässlichkeit und Gewissheit die Akzeptanz des Systems erhöhen und in welchen Pilotkommunen das System bis 2020 erprobt wird. Die von den Kommunen eingesetzten Sozialkreditsysteme variieren, ebenso die Kriterien, nach denen sie bewerten und die Motivation. Die erfassten Daten stammen aus Sozialen Netzwerken, Smartphone-Apps oder von Kameras mit Gesichtserkennung. Selbst in kleinen Dörfern gibt es „Sozialkredit-Plätze“ mit Informationsplakaten über erwünschtes und unerwünschtes Verhalten und über die Anzahl der damit verbundenen Punkte. An anderen Orten werden kleine Bücher und Handreichungen verteilt mit Informationen und Anweisungen sowie Kontaktadressen zum Melden von erwünschtem Handeln, welche mit Fotos oder Videos belegt werden müssen. Die Autoren beschreiben konkret, auf welche Weise die Punkte erfasst und dokumentiert werden. So berichtet der 64-jährige Liu Jian Yi: „Ich habe gerade den Kamin eines Nachbarn repariert. Wenn ich das unserem Parteichef melde, mein Freund es bestätigt und ein Foto vorlegt, dann müsste ich einen Punkt bekommen. Der Kontostand wird am Monatsende per WeChat bekanntgegeben, aber ich besitze kein Smartphone.“
Zum Schluss lassen die beiden Journalisten den Spezialisten für chinesisches Recht, Jeremy Daum, zu Wort kommen. Er sammelt im Rahmen des Projekts China Law Translate alle erreichbaren Regeln des chinesischen Sozialkreditsystems. Nach Daum sei ein einheitlicher Score für die Regierung überhaupt nicht sinnvoll, weil viele Informationen außerhalb ihres Kontextes nicht relevant seien. Den wahre Nutzen verortet Daum ganz woanders: „Was am meisten zählt, sind die schwarzen Listen und die öffentliche Demütigung, die sie hervorrufen.“
Raphaël, René; Xi, Ling (2019): Der dressierte Mensch. In: Le Monde diplomatique, Deutsche Ausgabe vom 10. Januar. https://monde-diplomatique.de…
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