In einem Interview mit dem Tagesspiegel vom 9. März 2019 nimmt der Berliner Soziologe Steffen Mau Stellung zu Social Scoring und dessen Ausprägungen und Entwicklungen in China und den westlichen Ländern. Er benennt Unterschiede und Gemeinsamkeiten und gibt Beispiele, wie diese Systeme sich langsam in den Alltag einschleichen und länderübergreifend eingesetzt werden. Beispielsweise akzeptiert Kanada bei der Entscheidung über die Vergabe von Visa seit kurzem den Kreditscore “Zhima-Credit” des chinesischen Unternehmens Ant Financial, auch als Sesame Credit bekannt.
Nach Mau entsteht durch Social Scoring „soziales Kapital“, das einen reellen Tauschwert besitzt und Lebenschancen eröffnet. Ist dieses Kapital aus welchen Gründen auch immer „niedrig“, schließen sich Zugänge und die Gefahr von Diskriminierung wächst. Des Weiteren beobachtet Mau, dass die staatliche Benennungsmacht, die Fähigkeit, Gesellschaften zu formen und zu kategorisieren, immer stärker durch internationale Konzerne abgelöst und privatisiert wird. Ihre Messverfahren und Klassifizierungen bestimmen, “welche Art von Welt uns als Gesellschaft insgesamt erscheint.” Mau spricht von “neuen Sichtbarkeitsordnungen”, die allenthalben enstehen und denen keine gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse vorangingen. Diese “Sichtbarkeitsordnungen” begreift Mau als eminent politisch: “Die Welt wird nicht einfach abgebildet – sie wird reformatiert. Diese neue Welt ist nicht völlig losgekoppelt von dem, was da draußen ist. Aber die Scores stellen doch nur ein sehr spezifisches Bild unserer Welt dar.” Die privatisierte Benennungsmacht wirkt aber dennoch in die Öffentlichkeit hinein und dies hält Mau für „eine gefährliche Situation“, weil sich „die Art und Weise, wie wir Gesellschaft denken und organisieren“, verändert. Deshalb spricht sich Mau für eine Regulierung aus. Wenn wir diese Entwicklung in den Griff bekommen wollen – so Mau, „müssen wir uns emanzipieren und an der einen oder anderen Stelle harsch politisch intervenieren.“ Und er definiert eine harte Grenze der gesellschaftlichen Reformatierung: “Wir können nicht zulassen, dass die Lebenschancen von Algorithmen bestimmt werden.”
Das Interview ist ein Transkript der zweiten Folge des Tagesspiegel-Podcasts „Causa – Der Ideenpodcast“ und wurde für die Schriftfassung des Tagesspiegel-Artikels bearbeitet und gekürzt.
Foto: Dr. Harald Gapski