Der Arbeitsmarktservice (AMS) testet seit Januar 2019 ein statistisches Modell, mit dem Arbeitslose aufgrund persönlicher Merkmale wie Geschlecht, Alter, Staatszugehörigkeit etc. bewertet und deren Arbeitsmarktchancen berechnet werden. Bis Ende 2019 soll dies ohne Konsequenzen bleiben. Ab 2020 sollen finanzielle Mittel entsprechend den jeweiligen Arbeitsmarktchancen verteilt werden. Die SYNTHESISFORSCHUNG hat dazu im Oktober 2018 eine Dokumentation veröffentlicht.
Die Erwerbslosen werden unter dem Aspekt ihrer Integrationschancen in den Arbeitsmarkt in drei Gruppen aufgeteilt: mit hohen, mittleren und niedrigen Chancen. Dabei wird u. a. nach verschiedenen Personenmerkmalen unterschieden (z.B. Geschlecht, Alter, Betreuungspflichten, gesundheitliche Einschränkungen etc.), die unterschiedlich gewichtet werden. Demnach werden Frauen („– 0,14 x GESCHLECHT_WEIBLICH“), ältere Menschen („– 0,70 x ALTERSGRUPPE_50_PLUS“), beeinträchtigte Menschen („– 0,67 x BEEINTRÄCHTIGT“), Menschen mit Betreuungsaufgaben („– 0,15 x BETREUUNGSPFLICHTIG“) oder Personen, die das Pech haben, in Gegenden mit schlechten Arbeitsmarktrahmenbedingungen zu wohnen („– 0,82 x RGS_TYP_5″), automatisch mit negativen Werten gewichtet.
Mit dem Modell verfolgt der Arbeitsmarktservice das Ziel, bei rückläufigen finanziellen Ressourcen effizienter (s. Interview mit AMS-Chef Johannes Kopf) in Fördermaßnahmen für die mittlere Gruppe zu investieren, weil man sich hier den größten Effekt verspricht. Die Gruppe mit niedrigen Chancen auf Arbeit soll künftig keine teuren Facharbeiterausbildungen mehr erhalten, weil sie „im Verhältnis zu den Kosten wenig effektiv“ seien.
Die Veröffentlichung des Arbeitsmarktchancen-Modells führte zu einer anhaltenden Diskussion, in die sich auf Einladung von AMS-Chef Johannes Kopf im Januar 2019 auch die Arbeitsmarktexpertin der OECD, Kristine Langenbucher, einschaltete mit ihrer grundsätzlich positiven Bewertung des Einsatzes von Algorithmen im Arbeitsvermittlungsprozess. Dem Einwand, das Modell würde eine strukturelle Diskriminierung etwa von Frauen weiter verfestigen, begegnet der AMS mit dem Hinweis, dass 50 Prozent aller Mittel für die Förderung von Frauen eingesetzt werde, obwohl Frauen nur 43 Prozent der Arbeitslosen stellten. Darüber hinaus würden Ungleichheiten am Arbeitsmarkt durch kluge Förderinstrumente ausgeglichen.
Kritik kommt u. a. von der Journalistin und Autorin Ingrid Brodnig, die in ihrem Artikel „Negativfaktor Frau“ für das Nachrichtenmagazin „Profil“ ethische Bedenken äußert, „wenn der Staat Algorithmen für wichtige Entscheidungen nutzt.“ Sie fragt, wie gerecht es sei, Frauen „ein schlechteres Ranking zu geben und auch die Ressourcen danach zu verteilen?“ Für Brodnig wäre es nur fair, wenn diese Datenauswerter selbst „stärker durchleuchtet werden“ würden.
Einen weiteren Einwand formuliert Carla Hustedt, Politikwissenschaftlerin im Projekt „Ethik der Algorithmen“ der Bertelsmann-Stiftung, in ihrem im Standard erschienen Artikel „Der maschinelle Weg zu mehr Menschlichkeit: Es braucht Kontrolle“ vom 3. November 2018. Der gemeinwohlorientierte Einsatz von Algorithmen führe nur über eine „kraftvolle Regulierung aus Brüssel“. Mit Blick auf das österreichische Entscheidungssystem warnt sie davor, politische Entscheidungen auszulagern: „Hinter der Technologie verbirgt sich ein politisches Ziel: Nicht diejenigen, die Unterstützung am dringendsten benötigen, sollen besonders gefördert werden, sondern diejenigen, die am leichtesten vermittelbar sind. Das ist keine algorithmische, sondern eine politische Entscheidung, über die nun zu Recht intensiv diskutiert wird.“
Quellen:
Ohne Autor. Arbeitslose nach Chancen eingeteilt: OECD lobt AMS-Algorithmus. In: Der Standard, 18 Jan 2019. https://derstandard.at/2000096564832/teilt-Arbeitslose-nach-Chancen-ein-OECD-lobt-AMS-Algorithmus 27 Feb 2019.
Brodnig, Ingrid. Negativfaktor Frau. In: Profil, 20 Oct 2018. https://www.profil.at/meinung/ingrid-brodnig-negativfaktor-frau-10422551 27 Feb 2019.
Hustedt, Carla. Der maschinelle Weg zu mehr Menschlichkeit: Es braucht Kontrolle. In: Der Standard, 3 Nov 2018. https://www.derstandard.de/story/2000090549552/der-maschinelle-weg-zu-mehr-menschlichkeites-braucht-kontrolle 27 Feb 2019.
Holl, Jürgen; Kernbeiß; Günter; Wagner-Pinter, Michael. Das AMS-Arbeitsmarktchancen-Modell. Dokumentation zur Methode, Wien: Synthesis Forschung, 2018. http://www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/arbeitsmarktchancen_methode_%20dokumentation.pdf 27 Feb 2019.
Szigetvari, András (2018): AMS-Vorstand Kopf: “Was die EDV gar nicht abbilden kann, ist die Motivation”. Interview. In: Der Standard vom 10. Oktober. https://derstandard.at/2000089096795/AMS-Vorstand-Kopf-Menschliche-Komponente-wird-entscheidend-bleiben 27 Feb 2019.
Foto: Screenshot AMS