In einem 14-seitigen Dossier stellen Barbara Kolany-Raiser und Tristan Radtke eine Reihe von Social Credit Systemen in China vor und nehmen diese zum Anlaß, die datenschutzrechtlichen Grenzen eines solchen Systems in Europa im Hinblick auf die Privatwirtschaft zu beleuchten. Der Beitrag liefert eine Definition des Begriffs „Social Scoring“ und konzentriert sich dabei im Wesentlichen auf die Bewertung natürlicher Personen.
Sesame Credit ist ein freiwilliges, kommerzielles Social Credit System der Firma Ant Financial, bei dem sich die Kund(inn)en den Score über eine App anzeigen lassen können. Gute Bewertungen und ein hoher Score hängen von der Nutzung des Dienstes Alipay und den gekauften Produkten wie etwa Windeln ab, aber auch die Anzahl der eigenen Freunde auf Alipay und das Verhalten von Freunden und Bekannten haben Auswirkungen auf den eigenen Score. Es besteht eine Kooperation mit der beliebten Dating-App Baihe, in der Kund(inn)en mit ihrem Score um Partner(innen) werben können.
Tencent betreibt ein eigenes Social Credit System, das bei der individuellen Bewertung auch das Verhalten der sozialen Kontakte in sozialen Netzwerken berücksichtigen soll.
In der Stadt Rongcheng läuft seit 2014 „das wohl wichtigste Pilotprojekt“, dass mit einem ausgeprägten Belohnungssystem arbeitet, wie zum Beispiel Bevorzugungen bei der Zulassung für Schulen, beim Abschluss von Versicherungen „und bei der Gewährung von sozialen Leistungen“. Das System arbeitet allerdings auch mit einem hohen sozialen Druck, wenn es z. B. die Zufriedenheit anderer mit der eigenen Arbeit der Bewertung zugrunde legt oder kritische Äußerungen in sozialen Netzwerken berücksichtigt.
Das Pilotprojekt der Stadt Suzhou setzt ebenfalls auf sozialen Druck und schaltet bei Telefonaten mit Bürger(inne)n, die einen schlechten Score haben, vor dem Verbindungsaufbau eine Ansage mit einem Hinweis auf einen niedrigen Score.
Ab 2020 soll jedem/jeder Volljährigen in China ein Social Score zugewiesen werden. Dabei sollen auch Suchanfragen, Online-Einkäufe, aber auch das öffentliche Verhalten der Bürger(innen) durch Gesichtserkennungssoftware mit in die Bewertung einfließen. Auch (ausländische) Unternehmen erhalten einen Score. Dabei ergeben sich für die Autor(inn)en noch zahlreiche Fragen: „Welche Datenquellen werden tatsächlich herangezogen? Welche Konsequenzen hat ein guter oder schlechter Score im Alltag? Wird das Social-Credit-System maßgeblich zur Schaffung von Vertrauen in der Gesellschaft und Wirtschaft verwendet oder steht die Stärkung der Kontrolle über etwaige Dissidenten im Vordergrund?“
Anschließend diskutieren die Autor(inn)en, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen Unternehmen in Europa unter der DSGVO ein eigenes Social-Credit-System aufbauen können. Sie kommen zu dem Schluss, dass das europäische und deutsche Datenschutzrecht nur wenig Spielraum für ein umfangreiches Social-Credit-System durch private Unternehmen lassen. Einzig bei entsprechender Kooperationsbereitschaft der Kund(inn)en halten sie ein privates Social Credit System für realisierbar.
Kolany-Raiser, Barbara; Radtke, Tristan. Ich sammele, also bin ich (Social Credit). Das Szenario eines allumfassenden Bonitätssystems am Beispiel Chinas. In: ABIDA-Dossier, Juni 2018. http://www.abida.de/sites/default/files/20%20Dossier%20Social%20Credit.pdf